Gesundheit im Fokus oder Selbstoptimierungswahn?

5/13/20245 min read

Ich habe gerade an einem anderen Beitrag geschrieben, als mich plötzlich dieser innerliche Wunsch überkam, diesem Thema zuerst die Bühne zu schenken.

Das ist ein Thema oder ein Gedanke, der mich schon länger umtreibt. Er hat mich auf meinem eigenen Heilungsweg wohl schon immer unbewusst aber in letzter Zeit zunehmend bewusster begleitet. Denn was vor einigen Jahren begann als Wunsch dem Körper das zu geben, was er braucht, verlor sich in einer immer zwanghafteren Unsicherheit was das überhaupt bedeuten könnte.

Mein gesundheitlicher Werdegang begann vor einigen Jahren mit dem Erkennen immer vordringlich werdender Symptome und Beschwerden. Bewusstsein über die Veränderlichkeit und Beeinflussung dieser Beschwerden bekam ich durch Wissenszuwachs. Ich fand Eingang in die Blase der ganzheitlichen Gesundheit. Ich las Beiträge, belegte Weiterbildungen und orientierte mich an Meinungen funktioneller Mediziner. Ich nahm diese Meinung als meine Wahrheit an und verfolgte die neuen Erkenntnisse, motiviert sie in meinen Alltag zu integrieren.

Ich begann mit einer Ernährungsumstellung, einer Eliminierungsdiät der Hauptallergiegruppen sowie einer Darmsanierung, ich etablierte einen umfangreichen Nahrungsergänzungs- und Therapieplan, Infusionen, bioidentische Hormontherapie, umfangreiche Diagnostik folgten. Um diesen Prozess nun in Kürze und rückblickend herunterzubrechen war es in den folgenden Jahren eine stete Entwicklung. Es war ein Durchleben von Veränderungen, dem Aufheben einiger und Auftauchen anderer Symptome. Statt aber den Prozess nachzuvollziehen und das Verschwinden der ursprünglichen Beschwerden zu wertschätzen , verlor ich mich in den Problemen des Jetzt mit überhöhten Erwartungen an die Zukunft und dem illusionären Wunsch nach völliger Beschwerdefreiheit.

Ich erkannte nicht, dass ich durch all die Interventionen, Therapien und Maßnahmen, die ich umsetzte, Entwicklung und Veränderung bewirkte. Vielmehr sah ich nur andere auftauchende Symptome. Statt das Überwinden alter Beschwerden zu wertschätzen bewertete ich das Auftauchen neuer als stetes Versagen. Ich erlebte ein Gefühl der Ohnmacht und Unveränderlichkeit des eigenen Leids. Ich versuchte verzweifelt die Kontrolle aufrechtzuerhalten durch ein zunehmend zwanghaftes und rigides Umsetzen eines vermeintlich optimalen Ernährungs- und Lebensstiles. Eine immer eingeschränktere Lebensmittelauswahl, eine immer größere Unsicherheit bezüglich der Verträglichkeit von diesem oder jenem Lebensmittel, immer mehr Sport, mehr Bewegung, alle Strategien des Biohacking wie Eisbaden oder Lichttherapie und technologische Unterstützungen wie Hypoxietraining oder Ioneninduktion. Strikte Regeln, rigide Strukturen, fancy shit. Alles um endlich zu heilen. Aber echte und ehrliche Heilung? Weit gefehlt.

Irgendwann stellte sich mir zunehmend die Frage: Was brauche ich wirklich?

Ich möchte dieses Wissen, das ich mir angeeignet habe nicht missen. Es ist ein wichtiger Schritt in meinem Entwicklungsprozess. Und auch die zeitweise überhöhte Erwartung und rigide Einhaltung dieser Überzeugungen war Teil des Prozesses. Nur ebenso wichtig ist ein nächster Schritt, ein weiterer Entwicklungsabschnitt, ein neues Bewusstsein. Das Bewusstsein, über das Loslassen. Das Bewusstsein darüber, die eigene innere Wahrheit finden zu wollen. Aufbauend auf allen Erkenntnissen, Diagnostiken, Interventionen, Therapien und Wissensständen nun den wirklichen eigenen Weg zu finden. All das zu übernehmen, was ich tatsächlich brauche und alles gehen zu lassen, was nicht.

Das finden, was man wirklich braucht.

Klingt leichter als es ist und das herauszufinden ist ein langer Prozess. In diesem Prozess ist aber erst einmal die Erkenntnis entscheidend, dass alles was als vermeintlich “optimal” dargestellt wird, sei es Ernährung, Lebensstil oder Psychohygiene - am Ende doch nichtig ist und allein als Inspiration dienen kann. Es geht keinesfalls darum, alles ungefiltert zu übernehmen und das eigene Selbst in die Strukturen einer rigiden Imitation eines Konstruktes optimaler Lebensführung zu pressen.

Ich baute also über die Jahre einen vermeintlich optimalen Lebensstil auf, um ihn dann zu revidieren und zunehmend wieder abzubauen. Es war nicht so, dass ich alle Erkenntnisse und Überzeugungen einfach wieder verwarf. Es ging dabei viel mehr um die Integration dieser Erkenntnisse und "objektiver Wahrheiten" in die Struktur meiner eigenen Wahrheit. Es war die Anerkennung der unumstößlichen Wichtigkeit von Individualität in Bezug auf Gesundheit und Körperwahrheit. Und so können grundlegend ratsame und gesundheitlich zuträgliche Ernährungs- und Lebensweisen unter dem Mantel von Zwanghaftigkeit und Rigidität in der Umsetzung ihre eigentliche Wohltat für Körper und Geist verfehlen.

Es geht nicht darum blind dem vermeintlichem Optimum hinterherlaufen. Es geht darum mit dem Wissen, das man sich angeeignet hat, auch mal innezuhalten und hinzuhören - um die eigene Stimme, die eigene innere Wahrheit zu hören und die Antwort auf das “was brauche ich” in sich selbst zu finden. Dadurch schafft man Balance in dem Ausmaß in dem man Ernährungs- und Lebensstilempfehlungen für sich selbst umsetzen mag - und zwar diejenigen, die einem selbst tatsächlich gut tun.

Und all das gilt nicht nur für die allgemeinen Empfehlungen “Welches Essen ist gesund” und “Wie viel Bewegung pro Tag ist gut”. Auch das Feld der Selbstfürsorge läuft Gefahr der Selbstoptimierung anheim zu fallen. Das Thema der Work-Life-Balance wird immer populärer und die Empfehlungen zumeist eindeutig: In der Freizeit sollst du meditieren, kreativ sein, in die Natur gehen, lesen, Wellness machen - die Liste ist lang.

Wie Tamara Niebler auf ihrem Blog die-inkognito-philosophin.de aber richtig erkennt ist, dass das nicht ganz richtig ist, (nur) eben solches als Selbstfürsorge zu betrachten. Hierzu schreibt sie Folgendes:

Viele Menschen verwechseln Selbstfürsorge mit einzelnen Maßnahmen der Self Care. Und dann auch noch mit Dingen, die schnell gehen müssen. Selbstfürsorge ist da doch etwas mehr. Sie ist ein Ausdruck Deines Selbstwertgefühls und beeinflusst es gleichzeitig.

Sie zitiert auch Prof. Dr. Reichhardt, nachdem sich zwei Strömungen der Selbstfürsorge zeigten:

  • Selbstfindung (Sinnsuche) - die “richtige” Selbstfürsorge

  • Selbstoptimierung (Verbesserung) - die “falsche” Selbstfürsorge

Selbstfürsorge hat demnach nichts mit Selbstoptimierung zu tun und sollte nicht aus zuträglichen Maßnahmen wie Meditieren oder einem heißen Bad bestehen, die man dann doch nur zwischen irgendwelche Termin quetscht oder abarbeitet wie eine To-Do-Liste.

Tamara Niebler beschreibt, dass…

Alles, was diesem Effizienzgedanken unterliegt, ist Self Care – ein oberflächlicher Trend, aber keine echte Selbstfürsorge. Ganz im Gegenteil, das ist Raubbau an Deinen persönlichen Ressourcen & Deiner Gesundheit. Selbstfürsorge hat in diesem Sinne nichts mit einer Flucht aus Deinem Leben zu tun oder damit, besser zu werden.

Hier zeigt sich also wieder der Gedanke, die eigene innere Wahrheit zu finden. Es geht darum, aus dem Urwald an Gesundheitsmaßnahmen nur diejenigen Pflanzen herauszunehmen und auf deinen Acker zu pflanzen, die auch tatsächlich dort wachsen möchten.

Selbstfürsorge ist ganzheitlich und individuell und bedarf einer liebevollen aber aufmerksamen Beobachtung des eigenen Selbst. Es geht um die ehrliche Wahrnehmung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Es geht um die Fürsorge des Selbst ohne an Bedingungen geknüpft zu sein oder den Gedanken etwas mit Widerstand umsetzen zu müssen.

Selbstfürsorge ist eine innere Haltung, die mit einem stetigen Entwicklungsprozess verbunden ist.

Selbstfürsorge statt Selbstoptimierung bedarf also eines Entwicklungsprozesses. Es darf eine Entwicklung auf den Ebenen Körper, Geist und Seele sein, um zu einer eigenen inneren Wahrheit zu gelangen, um am Ende mit sich selbst im Einklang zu sein. Und Einklang bedeutet nicht ein Zustand nie endenden Glücks. Es bedeutet eine Entwicklung mit Höhen und Tiefen, Auf und Abs, mal schneller, mal langsam, mal stagnierend, mal aushaltend, mal Schmerz und Leid, mal Glück und Freude. Alles darf da sein. Das Entscheidende ist: Wir nehmen es bewusst wahr und wir nehmen es bewusst an.

Wenn dir das heiße Bad dabei hilft, ganz bei dir anzukommen. Wenn du in diesem Moment deinen Gefühlen Raum geben kannst. Wenn du in diesem Moment nur mit dir sein kannst und alles in dir da sein darf - dann ist das ein Moment der Selbstfürsorge. Der Spaziergang in der Natur, bei dem du auf dein Handy schaust, die Schritte zählst und daran denkst, wie viel Kalorien du dabei vielleicht gerade verbrennst - das wohl eher nicht.

Gerade bei dem Thema der ganzheitlichen Gesundheit geht es eben nicht um Selbstoptimierung, in dem ich alles vermeintlich “optimale” an Ernährungs- und Lebensweise in mein Leben zwinge und es abhake wie eine To-Do-Liste. Es geht darum, ehrlich und achtsam mit sich selbst, seinem Körper und seinem Geist umzugehen. Indem ich den Gefühlen und Bedürfnissen Raum gebe und liebevoll alles da sein lasse. Gib dir Zeit und kümmere dich um dich selbst, wie um eine(n) gute(n) Freund*in.

Frage dich: Was tut mir wirklich gut?

Deine Nina